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Pressemeldung

Nr. 52 / 2022

20. September 2022 : Zwischenbericht: Noch zahlreiche Pflichtverletzungen des Bistums Osnabrück zulasten Betroffener von sexualisierter Gewalt

Das an der Universität Osnabrück durchgeführte historisch-juristische Forschungsprojekt „Betroffene - Beschuldigte - Kirchenleitung: Sexualisierte Gewalt an Minderjährigen sowie schutz- und hilfebedürftigen Erwachsenen im Bistum Osnabrück“ konzentriert sich in seinem Zwischenbericht ein Jahr nach Projektbeginn auf Pflichtverletzungen des Bistums zulasten von Betroffenen.

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© Jens Raddatz

Stellten den Zwischenbericht vor: Prof. Dr. Hans Schulte-Nölke, Prof. Dr. Siegrid Westphal und Universitätspräsidentin Prof. Dr. Susanne Menzel-Riedl (v.l.).

Es fragt nicht nur nach den Fehlern Einzelner, sondern auch, welche Rechte die Betroffenen gegen ein Bistum haben. In der Bewertung des Bistumshandelns kommt das Projektteam zu einem differenzierten Ergebnis. Die Rechte der Betroffenen wurden und werden bis in die jüngste Zeit oft verletzt. Hingegen lassen sich in den letzten Jahren nur noch wenige Verstöße gegen Pflichten des Bistums zu Maßnahmen gegen Beschuldigte feststellen.

Der besondere Beitrag des Osnabrücker Forschungsprojektes für den laufenden Diskurs um sexualisierte Gewalt in der Kirche ist zunächst ein umfassender Katalog der Rechtspflichten eines Bistums. Trotz der teilweise unklaren Rechtslage werden in der Studie, neben den Pflichten zu Maßnahmen gegen Beschuldigte, erstmals die Pflichten gegenüber Betroffenen benannt. „Unklarheiten der Rechtsordnung haben nicht zur Folge, dass es keine Rechtspflichten gibt“, so der Jurist Prof. Dr. Hans Schulte-Nölke von der Universität Osnabrück, der das Projekt gemeinsam mit der Historikerin Prof. Dr. Siegrid Westphal leitet. „Wir hoffen, dass unser Überblick zu den Pflichten eines Bistums auch Betroffenen hilft, ihre Rechte geltend zu machen.“

Anhand von anonymisierten Fallbeispielen (15 Priester, ein Diakon) macht der Zwischenbericht transparent, wie Bistumsleitungen sich verhalten haben, als sie von Beschuldigungen sexualisierter Gewalt Kenntnis erhielten. „Für die Fallbeispiele haben wir in mehrmonatiger Archivarbeit Hunderte von Akten gesichtet“, berichtet Dr. Jürgen Schmiesing, der die Arbeit des Projektteams koordiniert. So zeichnen die durch Aktenrecherche der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler rekonstruierten Fallbeispiele die Informationslage nach und decken auf, welche Maßnahmen auf dieser Basis ergriffen wurden. Das Projektteam versucht zu bewerten, ob diese Maßnahmen pflichtgemäß und angemessen waren.

„Bis über das Jahr 2000 hinaus hat das Bistum Osnabrück teils schwerwiegend gegen die Pflicht zu angemessenen Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Taten verstoßen. Dadurch hat es weitere Minderjährige in Gefahr sexualisierter Gewalttaten gebracht“, erklärt Prof. Schulte-Nölke. Schwer belastete Beschuldigte seien zwar ihrer Aufgaben entbunden worden, wurden jedoch beispielsweise weiterhin in Pfarreien eingesetzt, wo sie mit Messdienern in Berührung kamen oder Aufgaben in der Jugendseelsorge wahrnahmen. So erhielten sie neue Tatgelegenheiten. „Die Bischöfe trifft bei Entscheidungen über den weiteren Einsatz Beschuldigter eine individuelle Verantwortung“, so Schulte-Nölke.

Projektleiterin und Historikerin Prof. Dr. Siegrid Westphal hat sich mit den Motiven der Bistumsleitungen für das Fehlverhalten befasst. Quellen dazu waren die Aktenlage sowie ergänzend dazu Interviews, die das Projektteam viele Monate lang geführt hat. Westphal stellt fest: „Geheimhaltung, die Verhinderung von Bekanntwerden, waren erkennbar handlungsleitende Motive. Wichtiger als das Leid der Betroffenen waren dem Bistum Osnabrück der Schutz des Ansehens der Kirche oder der Schutz des Ansehens der Beschuldigten.“ Das Projektteam kommt zu dem Schluss, dass in den untersuchten Fällen eine erhebliche Rollen- und Pflichtenkollision insbesondere von Bischöfen sichtbar werde, so Westphal: „Einerseits mussten Bischöfe als Richter und Vorgesetzte einschneidende Maßnahmen gegen die Beschuldigten treffen. Andererseits sahen sie sich zu besonderer priesterlicher Fürsorge für die ihnen anvertrauten Kleriker verpflichtet.“

Etliche Verstöße habe es auch bei den Pflichten zu Hilfeleistung und zur finanziellen Anerkennung gegenüber Betroffenen gegeben. Das Bistum Osnabrück zeige bis heute keine Bereitschaft, den Betroffenen gegenüber großzügig zu sein und seine eigene Verantwortlichkeit, oft auch Schuld, vorbehaltlos anzuerkennen. Prof. Schulte-Nölke resümiert: „Die Aktenlage hat uns nicht den Eindruck vermittelt, dass das Bistum Osnabrück die Ansprüche der Betroffenen stets wohlwollend prüfte. Betroffene wurden bürokratisch und abweisend behandelt. Die generelle Linie ließe sich mit ‚Verzögern und Abwehren‘ beschreiben.“

Das Bistum Osnabrück orientiert sich seit 2011 an den Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz zu Verfahren in Anerkennung des erlittenen Leids, die die Zahlung einer relativ geringen Summe an die Betroffenen vorsehen. „Freilich nicht immer in Altfällen“, so Schulte-Nölke. „Das Bistum überprüfte zudem nicht mit hinreichender Sorgfalt, ob den Betroffenen über die Anerkennungszahlung hinaus Ansprüche auf Schadensersatz und Schmerzensgeld zustehen könnten.“

Neben den Projektmitarbeitern nahmen drei Betroffene als Mitglieder einer Steuerungsgruppe eine aktive Rolle in der kritischen Begleitung der wissenschaftlichen Studie ein. Sie gaben aus ihrer Perspektive konstruktive Rückmeldung insbesondere zur sprachsensiblen Darstellung der Ereignisse.

Hintergrund zum Forschungsprojekt: Die Universität Osnabrück führt in dem seit September 2021 laufenden und auf drei Jahre angelegten Projekt eine Studie zu sexualisierter Gewalt an Minderjährigen und schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen im kirchlichen Raum im Bistum Osnabrück seit 1945 durch. Bis 1995 gehörte auch das heutige Erzbistum Hamburg zum Bistum Osnabrück. Das Bistum stellt der Universität Osnabrück 1,3 Millionen Euro bereit. Es hat der Universität vertraglich zugesichert, die Recherche uneingeschränkt zu unterstützen und freien Zugang zu allen Dokumenten zu gewähren, soweit dies rechtlich zulässig ist. Die Veröffentlichung von Erkenntnissen seitens der Universität erfolgt in Wissenschaftsfreiheit. Einspruchsmöglichkeiten seitens des Bistums bestehen nicht. Das juristisch-historische Forschungsprojekt wird von dem Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Hans Schulte-Nölke und der Historikerin Prof. Dr. Siegrid Westphal (beide Universität Osnabrück) geleitet.

Zum vollständigen Zwischenbericht: https://www.s-gewalt.uni-osnabrueck.de